02/12
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von Hamid R. Ekbia
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Homo Inermis’ Angst

Die Ironie der Moderne

Wir sind soziale Tiere – Homo socius. Die Idee ist wohlbekannt und lässt sich von Aristoteles bis Freud verfolgen (und darüber hinaus). Doch während die Idee als solche sich über Jahrhunderte hinweg nicht gewandelt hat, haben sich ihre Bedeutung, Auslegung und Implikationen verändert.

Was genau bedeutet es für menschliche Wesen, „sozial“ zu sein? Wo liegen die Ursprünge menschlicher Sozialität und wie können wir diese erklären? Und nicht zuletzt: Was sagt diese grundlegende Tatsache – dass wir soziale Tiere sind – über uns als Individuen aus? In welcher Hinsicht unterscheidet sich ein menschliches Individuum – „vis-a-vis“ unserer Sozialität – von einem Löwen, Pferd oder einer Fledermaus? Wir sind aber auch Werkzeug herstellende Tiere – Homo faber. Auch dies ist eine alte Idee, prominent von Karl Marx im 19. Jahrhundert wieder aufgegriffen. Und wiederum haben sich, so alt die Idee auch sein mag, ihre Bedeutung und Implikationen über die Jahrhunderte hinweg verändert. Das liegt daran, dass unsere Werkzeuge sich verändert haben – und mit diesen auch wir selbst.

Stehen diese beiden Seiten unserer Menschlichkeit – der Mensch als soziales und als Werkzeug erschaffendes Tier – zueinander in Beziehung? Ich denke, dass ja – und dass es sich dabei um eine wechselseitige und „notwendige“ Beziehung handelt. Wir sind soziale Tiere, weil wir Werkzeuge herstellen können, und wir sind fähig, Werkzeuge herzustellen, weil wir soziale Tiere sind. Dies ist eine altbekannte Hypothese, nicht zuletzt von Karl Marx vertreten, der argumentativ vorführte, wie Werkzeuge und Technologien die sozialen Beziehungen zwischen menschlichen Wesen formen und bedingen und wie, umgekehrt, unsere soziokulturellen Strukturen die Bedingungen für die Erzeugung neuer Werkzeuge (re)produzieren.
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Tatsächlich steht eine ähnliche These im Zentrum vieler Studienfelder, die sich mit der Beziehung zwischen Computer und Gesellschaft befassen. Obwohl viele dieser Studien sie nicht explizit erwähnen, ist die These (in ähnlicher Weise wie oben angeführt) für sie alle grundlegend, sie begründet ihr zentrales Axiom. Es wäre kaum sinnvoll, „Computer und Gesellschaft“ zu erforschen, wenn es keine Verbindung zwischen Sozialität und Werkzeugherstellung gäbe. Ich selbst erforsche diese Beziehung in Bezug auf das menschliche Verlangen, Werkzeuge nach dem eigenen Ebenbild zu schaffen; anders ausgedrückt: unser Verlangen, wie Gott zu handeln. Ich nenne es unsere „künstlichen Träume“.

Ich möchte auf diese Wechselbeziehung unter Berücksichtigung eines dritten Aspekts unserer Menschlichkeit näher eingehen – wir sind auch Homo inermis: der „unvollkommene“ und „ausgesetzte Mensch“. Unzählige Denker haben darauf hingewiesen, dass die menschliche Spezies von Bedürftigkeit, Unvollkommenheit und Schutzlosigkeit geprägt ist und es nicht zuletzt diese Eigenschaften sind, die uns in Richtung Heteronomie, Kollektivität und Sozialität drängen, aber auch zu Erfindung, Erneuerung und Kreativität. Was als unsere Schwäche erscheint, ist zugleich eine Stärke; unsere Achillesferse ist zugleich Heras Zeh, herkulische Kraft, unser größter Vorteil. Sie ist das, was uns von allen anderen Spezies auf dieser Erde unterscheidet.

Aigner: Death Row

Ausgesetztheit ist nicht einfach ein abstraktes Attribut unserer Spezies. Sie ist auch nicht ein Ding der Vergangenheit, jener dunklen Vorzeit, in der unsere Vorfahren sich einem Leben voll Mühsal, Mysterien und den Unwägbarkeiten einer kompromisslos harten Lebenswelt ausgesetzt sahen. Sie ist die existenzielle Verfasstheit aller menschlichen Wesen, sei es in der Gegenwart oder in der Vergangenheit. Wir erleben diesen Zustand als Furcht, Besorgnis und Angst. Angst ist also der emotionale Ausdruck einer grundlegenden existenziellen Verfasstheit. Sie ist eine feste Größe in unserem Leben; wir können ihr nicht wirklich entrinnen. Veränderlich ist nur der Referent dieser Angst – das, worauf sie verweist. Historisch gesehen speiste sich dieser Referent üblicherweise aus einer von zwei Quellen: Natur oder Gesellschaft. Was unseren Höhlen bewohnenden Vorfahren die größte Angst einflößte, waren Naturereignisse (Überschwemmungen, Erdbeben etc.) und wilde Tiere (Schlangen, Löwen etc.). Als die Formen menschlichen Zusammenlebens und damit die sozialen Beziehungen komplexer wurden – als „Gesellschaft“ entstand –, gewannen auf Besitz, Macht und Wissen basierende Hierarchien an Bedeutung. Unsere Vorfahren lernten ihre eigenen Artgenossen zu fürchten: andere menschliche Wesen.

Die Moderne hat diesen beiden Quellen eine weitere hinzugefügt – Technologie und deren Produkte: „Maschinen“. Nicht nur sehen wir uns als menschliche Wesen statt mit zwei nun mit drei zentralen Ausgangspunkten von Angst konfrontiert – mit natürlichen, sozialen und dem, was wir etwas salopp als „artifizielle“ Quellen bezeichnen könnten – es hat sich auch ein großer Teil unserer „natürlichen Angst“ und „sozialen Angst“ in Richtung „artifizielle Angst“ verschoben. Ich werde das im Folgenden Angst artificiele nennen. Dass wir offensichtlich umso größerer Angst – sozialer wie technologischer Natur – ausgesetzt sind, je lückenloser es uns gelingt, die natürliche Welt zu dominieren und zu kontrollieren, entbehrt nicht ganz der Ironie.

Ich werde mich im Folgenden mit der zentralen Ironie der Moderne befassen: der wachsenden Angst des Homo inermis, aufgespannt zwischen Homo socius und Homo faber.

Die soziale Angst des Homo socius

Wir leben heute in einer Welt, die über sehr viel mehr Wohlstand verfügt als diejenige unserer Eltern oder Großeltern. Interessanterweise hat dieses materielle Wohlergehen nicht zu größerer psychologischer Stabilität oder Absicherung geführt. Die weniger privilegierten unter uns sehen sich – während sie versuchen mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes umzugehen, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben oder Ehepartner und Familienmitglieder begleiten, die vor ebendiesen Problemen stehen – mit den Anforderungen ständiger Mobilität konfrontiert. Bisweilen wechseln Personen natürlich auch aus freiem Entschluss und um sich neue Möglichkeiten zu erschließen den Ort. Aber wie auch immer die Ursachen und Hintergründe aussehen: Die unausweichliche Konsequenz von Mobilität ist die Trennung von Freunden, Familie, Nachbarn und sozialem Umfeld. Diese verschiedenen Formen von Trennung fordern alle ihren Preis: den Verlust von Gemeinschaft, Verlust von Verbundenheit und manchmal von Identität. Die Entfernung von nahestehenden Personen, fehlende Einbindung in das lokale Gemeinwesen, Einsamkeit und Ennui sind verbreitete Phänomene unserer modernen Lebenswelt. Ironischerweise sind selbst Menschen, die in gesichertem Wohlstand leben, gegen Angst nicht gefeit.
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Soziale Tiere haben eine starke emotionale Bindung zu ihren Gruppen. Zum Beispiel Katzen, Hunde oder Paviane zeigen Stresssymptome – Psychologen nennen es Trennungsangst – wenn sie von ihren Artgenossen getrennt werden. Paviane geben wenn sie von ihrem Rudel getrennt werden eine Art „Kontaktbellen“ von sich. Es kann als ein Ruf nach Wiedervereinigung interpretiert werden. Haustiere entwickeln Angst, wenn sie von ihren menschlichen Gefährten getrennt werden. Die einfachste evolutionsgeschichtliche Erklärung für diesen „sozialen Instinkt“ ist, dass Gefahren für von der Herde isolierte Tiere größer sind: Gefahren wie Raubtierattacken, Verhungern, Krankheit und so weiter. Dieser Erklärung zufolge entwickeln isolierte Tiere heutzutage Panikattacken unter dem Einfluss dieses evolutionären Mechanismus.

Die andere soziale Angst, die uns umtreibt, hat mit unserer Suche nach Werten, nach Zielen und Bedeutung in unserem Leben zu tun. Denker wie Viktor Frankl haben versucht dieses Streben vor einem spirituellen und religiösen Hintergrund zu erklären, aber auch jenseits dieser Kontexte erschließt sich, denke ich, dessen zentrale Bedeutung für die menschliche Psyche. In unserer modernen Lebenswelt haben die damit verbundenen Fragen neue Dimensionen und eine neue Tragweite erfahren, nicht zuletzt durch die zunehmende Auflösung institutioneller Absicherungsstrukturen und die Aushöhlung des Wohlfahrtsstaates, die das Individuum in einem Zustand ökonomischer Unsicherheit, beruflicher Prekarität und sozialer Bedeutungslosigkeit zurücklassen.
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Maßgeblich ist, wie sich das Bild des idealen Selbst im Laufe des letzten Jahrhunderts geändert hat. Es veränderte gleichzeitig die Quellen der Ängste und Beklemmungen moderner Menschen. Während das ideale Selbst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts ein frommer, gehorsamer, loyaler und arbeitsamer Mensch war, ist das ideale Selbst des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts ein eigenständiges, aktives, mobiles und wetteiferndes Individuum, das die eigene Befriedigung in andauernder Stimulierung, Kommunikation und Eigenwerbung sucht. Die sozialen Ängste dieser zwei Menschentypen sind offensichtlich sehr unterschiedlich.

Ein Ergebnis dieser Entwicklung ist ein tiefgreifendes Gefühl der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit. Die Enttäuschung beruflicher Hoffnungen kann massiv traumatisierend sein. Viele Arbeitnehmer stellen fest, dass sie keine Möglichkeit haben, einem Leben zu entfliehen, das von beruflichen Sackgassen und ökonomischer Unsicherheit geprägt ist, oder dass selbst weiterführende Ausbildung ihnen nicht die beruflichen Chancen bietet, die sie sich erhofft hatten. Das Ergebnis dieser Erfahrungen ist letztlich ein allumfassendes Gefühl von Sinnlosigkeit, Nichtigkeit und dem Verlust von Bedeutung in unserem Leben.

Göbel: Open End

Die Angst artificiele des Homo faber

Wenn wir als menschliche Wesen der Moderne nach wie vor von sozialen Ängsten – Angst vor Trennung, Überflüssigkeit und Einsamkeit – getrieben sind, so stellt sich die Frage, in welcher Weise unsere Schöpfungen – Maschinen, Artefakte, Technologien u.a. – auf diese Angst Einfluss nehmen und sie bestimmen.

Es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage. Wir können, in einem sehr grundsätzlichen Sinne, die Präsenz moderner Technologien in verschiedenen Aspekten der Dynamik sozialer Angst ausmachen. Sosehr die Automatisierungstechnologien der Moderne das Alltagsleben für viele von uns vereinfacht haben, waren sie gleichzeitig auch ein entscheidender Faktor, um die Arbeiterklasse den Forderungen der kapitalistischen Wirtschaft zu unterwerfen. Moderne Technologien geben uns effiziente Mittel an die Hand, um menschliche Aktivität zu überwachen, sowohl in positivem Sinne – bestimmte Anwendungen im medizinischen Bereich – als auch auf entwürdigende und unmenschliche Weise – zum Zweck politischer Unterdrückung, Verfolgung und Kontrolle. Computertechnologien wie Big Data verleihen diesen Mechanismen eine neue Dimension, indem sie in unsere privatesten Lebensräume eindringen und die Überwachung unserer persönlichsten Aktivitäten in einem Ausmaß ermöglichen, das bis dato unvorstellbar schien.
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Ähnlich haben moderne Automatisierungstechnologien das Leben für viele von uns einfacher gemacht. Sie sind aber auch ein Mittel, die Arbeiterklasse den Ansprüchen der kapitalistischen Wirtschaft anzupassen. Wie Charlie Chaplins Meisterwerk Modern Times zeigt, wurden und werden diese Technologien noch immer genutzt, um den Menschen einen spezifischen Arbeitsrhythmus aufzuzwingen. Sie bringen sie an die Grenzen ihrer körperlichen und kognitiven Leistungsfähigkeit. Oft werden diese Technologien von vielen Menschen als Bedrohung für ihre Arbeitsstelle und damit ihren Lebensunterhalt wahrgenommen und sie befeuern ihre Angst, nutzlos zu werden.

Das Bedürfnis nach fortwährender Stimulation führt unter anderem dazu, dass wir grundlegende Elemente unseres persönlichen und sozialen Lebens zunehmend als flüchtige und vergängliche Begegnungen behandeln, als Möglichkeiten, die wir bei sich bietender Gelegenheit ergreifen: Die Ehe ist eher eine befristete Vereinbarung als eine lebenslange Verpflichtung; die Rituale und Hemmnisse romantischer Annäherung werden von Dating Sites und Pornografie überholt; sich informieren bedeutet, die Schlagzeilen von News Streams oder Tweets zu überfliegen; Lesen wird in Minuten-Einheiten abgehandelt und Graphic Novels sind bereits erbauende Lektüre, wenn Data-Mining-Tools in wenigen Minuten – und ohne die ganze Mühsal von Deutung und Interpretation – kompakt die „Grundaussage“ eines Buches liefern. Denken ist ein Luxus, den sich nur noch hoffnungslos der Vergangenheit verhaftete Stubengelehrte leisten können. Wenn wir diese Tendenzen in den Kontext unserer sozialen Ängste stellen, sind sie nicht weiter verwunderlich: Das Bedürfnis nach fortwährender Stimulation geht mit unserer Erfahrung von sozialer Isolation, Prekarität und Nutzlosigkeit einher – wir versuchen schlicht nicht darüber nachzudenken.

Moderne Technologien wecken noch eine andere Art von Furcht in uns, eine Angst, die aus der Annahme resultiert, Technologien könnten menschliche Wesen in verschiedensten sozialen und wirtschaftlichen Funktionen ersetzen. Diese Verdrängung kann in ganz unterschiedlichen Bereichen stattfinden: am Arbeitsplatz, in Freundschaften, in Liebesbeziehungen. Während die Maschine in der Frühzeit der Automatisierung dem Menschen vor allem „niedere“ Tätigkeiten abnehmen sollte, finden wir heute ein breites Spektrum an Computersystemen, die – so wird behauptet – die Expertise von Ärzten, Ingenieuren, Designern, Steuerberatern u.a. ersetzen. Viele unserer alltäglichen Tätigkeiten am Computer wie Surfen, Recherchieren oder Computerspiele werden als beängstigend empfunden, weil sie unsere Aufmerksamkeit von unserer menschlichen Umgebung – unseren Freunden, unserer Familie etc. – abziehen. In extremer Ausprägung kann der Computer zum Gefährten und Geliebten werden. Verschiedene Personen reagieren natürlich unterschiedlich auf diese Vorstellungen – zu den verbreitetsten Reaktionen zählen aber Angst und Beunruhigung.

Die existenzielle Angst des Homo inermis

Die biologische Ausgesetztheit des Menschen ist ein Thema, das von einer langen Reihe von Denkern behandelt wurde – für viele war es Grundlage und Angelpunkt ihrer soziologischen oder philosophischen Theorien. Wenn wir uns dem Homo inermis unter diesem Blickwinkel nähern, so entstammen Magie und Technologie demselben soziopsychologischen Bereich: Beide werden von dem menschlichen Bedürfnis gesteuert, die eigenen Unzulänglichkeiten zu überwinden und Wege zu finden, um mit dem Wirrwarr und der Ungewissheit der uns umgebenden Welt umzugehen. Was Technologie und Magie voneinander unterscheidet, ist folglich „nicht“, dass Erstere von rationalem Denken geleitet wird und Zweitere nicht. Sie unterscheiden sich insofern, als sie versuchen auf unterschiedliche „Weise“ auf dasselbe grundlegende Bedürfnis zu antworten: Magie, indem sie Natur in ihrer Gesamtheit heraufbeschwört (Gestirne, Jahreszeiten, Tiere etc.), und Technologie durch die selektive und kontrollierte Fazilitierung von Prozessen und Wirkmechanismen.
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Existenzangst entsteht in Verbindung zu einem spezifischen Volk (Amerikaner), spezifischer Technologie und spezifischen historischen Umständen. Ihr Ausmaß kann sich aber auch über diese Spezifitäten hinaus erstrecken. Die Frage hat Einfluss auf das ewige Dilemma der Menschen, nämlich unsere Unzulänglichkeit und Hilflosigkeit im Angesicht der inhärenten und immer wiederkehrenden Unsicherheit, Unvorhersehbarkeit und Komplexität der uns umgebenden Welt. Ursprung dieses Dilemmas ist die grundlegende Unvollkommenheit der menschlichen Spezies in Bezug auf ihre biologische, geistige und moralische Verfassung. Ironischerweise konnten die großen wissenschaftlichen, technologischen, wirtschaftlichen und anderen Errungenschaften der Moderne dieses grundsätzliche Dilemma nicht lösen – sie haben es nur verdrängt. Die noch größere Ironie liegt darin, dass die Moderne einige Formen von Angst tatsächlich noch verstärkt hat.

Das will nicht heißen, dass der Unterschied zwischen Magie und Technologie irrelevant ist. Er ist von Bedeutung, und das nicht zuletzt weil die Menschheit einen großen Teil ihres Fortschritts und ihres Wohlstandes nicht der Magie, sondern technologischen Errungenschaften verdankt. Nichtsdestotrotz ist es aber auch moderner Technologie nicht gelungen, die tiefsitzende Angst aufzulösen, die uns als menschliche Wesen umtreibt – weil sie von demselben unbewussten Wunsch getrieben ist, Ordnung in eine grundlegend ungeordnete Welt zu bringen. Die Faszination, die Automaten auf uns ausüben, speist sich zu großen Teilen aus diesem Bedürfnis. Wir begeistern uns ob der Tatsache, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht, dass Jahreszeiten einem regelmäßigen Rhythmus folgen, dass die Sterne am Himmelsgewölbe vorgeschriebenen Bahnen folgen usw. usf. Und versuchen folglich, Systeme zu konstruieren, die sich auf ähnliche Weise verhalten. Während wir das tun, ignorieren wir geflissentlich die Unzahl anderer Phänomene, die nicht dasselbe Maß an Ordnung, Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit aufweisen: Stürme, Erdbeben, Seuchen und vieles andere mehr. Für unsere Vorfahren war diese Vorgehensweise eine durchaus sinnvolle Strategie und bisweilen mag sie das auch für uns noch sein. Aber sie befreit uns nicht von unseren tief verankerten Ängsten und Befürchtungen.

Kristan: Monsterfurcht

Es ist diese Kombination aus Unsicherheit, Passivität und Abschottung, gepaart mit den Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit, die letztlich die Angst und Beklemmung hervorbringt, die unsere modernen Gesellschaften kennzeichnet. Um der Angst zu entfliehen, stürzen wir uns in eine Unzahl kurzlebiger Stimuli – sei es der unentwegte Kommunikationsschwall in Online-Kontexten, sensationslüstern aufbereitete Medienberichte oder der Drang, ständig einzukaufen – und bemerken nicht mehr, wie fundamental diese Angst unsere Psyche bestimmt. All diese Stimuli erfüllen denselben Zweck: die Angst zurückzudrängen an die Ränder unseres Bewusstseins, in der Hoffnung, dass sie sich dort ruhig verhält. Aber das ist eine Illusion.

All dies sind Fragen, mit denen sich Künstler, Schriftsteller und Philosophen seit langer Zeit auseinandergesetzt haben. Verdrängung und Verleugnung werden ebensowenig zu ihrer Lösung beitragen wie moralische Verdikte, religiöse Dogmen oder eine reaktionäre Rückschau, die versucht zu einer Vergangenheit zurückzukehren, in der angeblich alles schöner, besser und viel sicherer war. Das Beste, worauf wir hoffen können, ist vielleicht, dass die Menschheit sich ihrer jüngsten Erkenntnisse (sei es künstlerischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Natur), ihrer wirksamsten (diskursiven, technischen, inspirierenden etc.) Werkzeuge und ihrer besten Instinkte (Empathie, Liebe, Toleranz etc.) entsinnt und sich gemeinsam der Aufgabe zuwendet, unsere Bestimmung neu zu gestalten.

Hamid Ekbia ist Professor für Informatik, Kognitionswissenschaft und Internationale Studien an der Indiana University in Bloomington.

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Hamid Ekbia ist Professor für Informatik, Kognitionswissenschaft und Internationale Studien an der Indiana University in Bloomington. Dort wirkt er auch als Direktor des Zentrums für Vermittelte Interaktion. Seine Interessen beziehen sich auf die politische Ökonomie der Informatik und die Vermittlung sozioökonomischer Beziehungen durch Technologie in modernen Gesellschaften. Sein Buch Künstliche Träume: Die Suche nach nicht-biologischer Intelligenz ist eine kritisch-technologische Analyse künstlicher Intelligenz. Sein neues, gemeinsam mit Bonnie A. Nardi verfasstes Buch Heteromation and Other Stories of Computing and Capitalism untersucht computergestützte Formen der Wertschöpfung in kapitalistischen Ökonomien. Er ist Mitautor eines Bandes mit dem Titel Big Data Is Not a Monolith. Im Sommer 2014 organisierte Ekbia das Symposium Reconfiguring Global Space: The Geography, Politics, and Ethics of Drone Warfare. 2015 war er Fellow am IFK in Wien zum Thema Reconfiguring Global Space: The Geography, Politics, and Ethics of Drone Warfare.

VERWENDETES BILDMATERIAL

Cover: Foto und Arbeit von Christoph Straganz , Video (Absatz 3): Aigner: Death Row , Galerie (Absatz 5) : Fotos und Arbeiten von Adam Ulen Unhappy boy , Video (Absatz 9): Göbel: Open End , Video (Absatz 15): Kristan: Monsterfurcht , Autor: Foto von Taraneh Ekbia

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Schon seit Ihrer Entstehung lässt sich die Menschheit auf einen Kreislauf der Angst zurückführen, besonders auf die drei wichtigsten Ängste: existentielle, soziale und artifizielle Angst. Diese drei begründen und ersetzen sich laufend gegenseitig, sie existieren in modernen Zeiten aber auch gleichzeitig. Wir versuchen, die Widrigkeiten der Natur durch technische Innovation zu überwinden. Nachdem diese Innovation aber mit der Zeit wahrscheinlich die Kontrolle über unser Privatleben übernimmt, wird sie immer mehr zu einer neuen Quelle der Angst und wir werden, wie es schon immer war, von den Begrenzungen unserer Gesellschaft heimgesucht und gequält.
"Visuelle Interpretation von Adrienn Hérincs, Thanh Phan zum Text „Homo Inermis´Angst“ von Hamid R. Ekbia"
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