04/12
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von Stefan Sonvilla-Weiss
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Unser Recht auf
digitales Vergessen

Es wird immer schwieriger, die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten globaler Netzkultur mit dem Everyday der Alltagspraxis in ein gleichwärtig engagiertes und vernünftiges Verhältnis zu bringen. Obwohl diese Thematik seit Jahren mehr oder weniger intensive Auseinandersetzung erfuhr, lässt sich allseits ein kognitiver Overload oder besser eine kognitive Dissonanz feststellen.

Die Fülle an Daten und Informationen, die wir täglich zu verarbeiten haben, schafft ein Ungleichgewicht zwischen dem potenziell Möglichen (Stichwort 24/7 connected) und dem faktisch Unmöglichen einer allgegenwärtigen psychischen und physischen Präsenz. Tatsächlich vermischen sich die Verfügbarkeits-, Arbeits- und Freizeitrhythmen im Netz und daher verschwimmen auch die Grenzen von privater und öffentlicher Sphäre in den Mitmachangeboten der Aufmerksamkeitskultur. Die Vermutung liegt nahe, dass diese digitale Müdigkeit zwar zu einem kurzen Erregungszustand führt, wenn es um digitale Überwachung oder gar den Überwachungsstaat geht, letztlich aber von der Mehrheit der Bevölkerung als wenig bedrohlich empfunden wird. Im Vergleich dazu werden der Verlust des Arbeitsplatzes, Gesundheit und kriegerische Auseinandersetzungen weitaus gefahrvoller erfahren. Diese weitgehend indifferente Haltung der Bevölkerungsmehrheit gegenüber digitalem Ausspionieren und Datenverwertung persönlicher Informationen unterliegt ganz wesentlich staatlich organisierten Verdrängungs- und Steuerungsmechanismen.
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Als kognitive Dissonanz bezeichnet man einen Gefühlszustand, der durch mehrere Möglichkeiten von Informationsverarbeitung wie Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten, die nicht miteinander vereinbar sind, entsteht. KD entsteht, wenn man eine Entscheidung entgegen attraktiver Alternativen getroffen hat; man eine Entscheidung getroffen hat, die sich als Fehlentscheidung erweist; man gewahr wird, dass eine begonnene Sache anstrengender wird als erwartet; man große Anstrengungen auf sich genommen hat und dann feststellen muss, dass das Ziel nicht den Erwartungen entspricht.

24/7 connected, also twentyfourseven beschreibt die ständige Bereitschaft und Verfügbarkeit von Dienstleistungen oder die Möglichkeit zum Dauerbetrieb von Gerätschaften.

Nicht umsonst standen 2013 beim Big Brother Award die Datenschutz-Negativauszeichnungen unter dem Motto Yes we scan. Die Negativauszeichnung, die in der Kategorie Politik an die österreichische Bundesregierung ging, wurde damit begründet, dass „keine Anstrengungen von Seiten der Regierung unternommen wurden, die eigenen Bürger vor dieser systematischen Rechtsverletzung durch die NSA zu schützen. Stattdessen gab es zahlreiche Bemühungen, das Ausmaß der Bespitzelung zu verschleiern“.

Woess: Keiner für Nichts

Radioaktive Verstrahlung und digitale Überwachung werden oft in einem Atemzug genannt, wenn es darum geht, unsichtbares Gefahrenpotenzial zu verharmlosen oder zu verschleiern. Die oft benutzte Metapher für Überwachung, nämlich die des Panoptismus, greift zu kurz, da heute Algorithmen entscheiden, welcher Mensch verdächtig ist.

Um jedoch die Rhetorik der Überwachung zu verstehen, scheint mir angebracht, die historischen Wurzeln näher zu erläutern.

Im Jahr 1785 entwarf der britische Philosoph Jeremy Bentham, Begründer des ethischen Utilitarismus, ein Gefängnismodell, das er Panopticon nannte. Neu daran war, dass alle Insassen von einem zentralen Turm aus beobachtet werden konnten, ohne selbst in den Turm sehen zu können. So wussten die Gefangenen nie mit Sicherheit, ob sie überwacht werden – die tatsächliche Überwachung wurde durch die Möglichkeit des Überwachtwerdens ersetzt. Als Rationalist hoffte Bentham, dass die Delinquenten so den Kontrollblick verinnerlichen und vor Straftaten zurückschrecken. Er verstand das panoptische Prinzip als Beitrag zur Erziehung der Menschheit im Sinne der Aufklärung. Foucault diente das Panopticon in seinen Untersuchungen zur Disziplinargesellschaft als exemplarisches Modell, um die Wirkung von Macht zu veranschaulichen. Seitdem ist es zum Synonym für das Arsenal an Überwachungskulturen und -praktiken geworden: Wenn wir zögern, eine rote Ampel zu überfahren, weil auf der anderen Seite der Kreuzung ein grauer Kasten steht, dann verhalten wir uns entsprechend der eben geschilderten panoptischen Logik. Wir wissen nicht, ob der Kasten eine Radaranlage enthält, nehmen aber die Möglichkeit dessen an.
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Jeremy Bentham war ein britischer Philosoph, er gilt als der Begründer des ethischen Utilitarismus: Die menschliche Existenz ist durch Leiden und Glück bestimmt mit dem Ziel, dass Menschen ihr Glück fördern müssen und Leiden verringern. Auf ethischer Ebene werden im Utilitarismus nur Handlungen gebilligt, die Glück fördern. Handlungen, die Glück verhindern, werden missbilligt.

Was geschieht, wenn wir das Panopticon unter Hinweis auf neueste infrarot-, wärme- oder satellitengestützte Visualisierungstechnologien überdenken? Worin liegen die soziologischen und politischen Konsequenzen für eine Überwachungsgesellschaft, wenn sich die Logik der Datenerfassung und -akkumulation nicht länger im phänomenalen Bereich abspielt? Kann man von einer Geschichte der Überwachung sprechen? Wie haben sich die zeitgenössischen Praktiken und Haltungen der Überwachung gegenüber geändert?

Der Cyberspace ist aber nicht Abbild unseres Selbst, sondern ein Datenfriedhof von Informations- und Medienelementen aus Software-Algorithmen, die ständig neue Daten für die großen Cluster von uns produzieren. Beim Wettrüsten im Überwachungssektor kämpfen Staaten und Konzerne um ihre Vormachtstellung. Diese Gemengelage ermöglicht einen wilden Datenkapitalismus – scheinbar jenseits von Recht und Gesetz. Somit steckt die aktuelle Debatte in einem Diskurs, der sich an den Verhältnissen Anfang des 20. Jahrhunderts orientiert. Da lag das Datenmonopol über die Bevölkerung beim Staat. Mit dem wachsenden Einfluss der Wirtschaft, allen voran der IT-Industrie, bröckelt das Monopol des Staates, „über Menschen und ihre Gewohnheiten Bescheid zu wissen“. Bereits die erste Welle an Dokumenten, die Snowden enthüllte, zeigte: Silicon Valley liefert mit seinen weltumspannenden Webservices die Infrastruktur für den globalen Überwachungsapparat. Die Schlüsse, die daraus gezogen werden können, sind: Unternehmen sammeln offener und dreister denn je Daten über uns, nicht zuletzt weil wir kooperieren. Mark Zuckerberg kann sich im Jahr 2012 unter dem Beifall der Massen hinstellen und sagen: „Privacy is over.“ Diese Losung lässt sich auch als „Unsichtbarkeit is over“ lesen. Niemand muss mehr im Dunkeln sitzen. Ungesehen. Ungehört. Allein. Das ist das große Versprechen.

Digitale Selbstermächtigung fordert aber die kritische Selbstprüfung des Bezugssystems „Ich und meine Daten“.
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Ende des 18. Jahrhunderts entwarf der britische Philosoph Jeremy Bentham das „Panopticon“ – ein kreisförmiges Gefängnis, dessen Zellen zur Mitte hin offen sind, in der sich ein Wachtposten befindet, der jedoch für die Insassen nicht sichtbar ist, d.h. diese wissen nicht, ob der Posten bewacht ist oder nicht. Diese permanente Möglichkeit der Überwachung alleine also würde ausreichen, um das Verhalten der Insassen zu beeinflussen. Für den Historiker Michel Foucault war das Bentham\'-sche Panopticon Ausgangspunkt seiner Kritik an der neuzeitlichen Disziplinargesellschaft, die ihre Macht in der Angst des Einzelnen verankert.


Wir bestimmen längst nicht mehr darüber. Wissen nicht, wer welche Informationen wie lange speichert oder was damit passiert. Die so generierten Algorithmen weisen uns nicht nur darauf hin, was wir kaufen können, welche Musik uns gefällt, welche Information uns interessiert. Algorithmen sind auf dem Weg zum Erzeuger von Lebenswirklichkeiten. Diese Konstellation schafft perfekt austarierte Angebotsstrukturen, in deren Geflecht wir uns nur scheinbar frei bewegen. Das Individuum wird in diesem Sinne zum (un)freiwilligen Produzenten kommerzieller Güter und gleichzeitig durch seine Informationen zum gesteuerten Konsumenten.

Was also tun?
Will man sich diesen Mechanismen entziehen, gibt es ein naheliegendes und einfaches Narrativ: Nutzer- bzw. Selbstverantwortung – und damit auch die Individualisierung von Kompetenz, Kontrolle, Schutz. Der Staat gibt die Verantwortung über unsere Daten zunehmend aus der Hand und macht die aus der Kontrolle geratene Wirtschaft zum Problem des Individuums. Da wir eine Backup-Gesellschaft sind und keine Löschgesellschaft, müssen wir das Recht auf digitales Vergessen einfordern. Das würde für alle Unternehmen, bei denen eine E-Mail-Adresse hinterlassen wurde, eine Benachrichtigungspflicht über die gesammelten Daten bedeuten. Eine andere Maßnahme wäre, dass Unternehmen, die Daten behalten, eine Datentransaktionssteuer entrichten müssten.
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Eine mögliche Form taktischer Gegenöffentlichkeit entwickelte der amerikanische Informatikprofessor Steve Mann mit dem Konzept der Sousveillance (Unterwachung), das sich kritisch gegenüber politischen Vorgängen in Richtung Überwachungsstaat positioniert. Während normalerweise staatliche oder anderweitig privilegierte Institutionen Personen ohne Sonderrechte überwachen, sind es bei Sousveillance die Überwachten, die höhergestellte Einrichtungen beobachten. Der Beobachtete wird so mit Hilfe seines Live-recording-Kameraauges zum Beobachter und schafft so eine umgekehrte Überwachungsrealität.

Die zweite Existenz des Menschen als Datenkörper verlangt nach neuen Strategien und Werkzeugen der Selbstermächtigung. Folgendes Beispiel zeigt, dass digitaler Ungehorsam die Grenzen unseres Verständnisses von Privatheit, Öffentlichkeit, geschlossenen und offenen Systemen usw. ausweitet – ganz im Sinne einer Transparenzgesellschaft, in der Wissen frei zugänglich ist und sich die Verknüpfung von Macht und Information löst. Als ich 2012 von der schweren Krankheit eines Freundes erfuhr, war ich geschockt, da wir noch kurz vor Ausbruch dieser an einer Projektidee arbeiteten. Umso mehr war ich überrascht, wie Salvatore mit diesem Schicksal umging.

TEDx Transmedia mit Salvatore laconesi

Anstatt zu verzweifeln, hatte Salvatore Iaconesi beschlossen, seine Gesundheitsdaten ins Internet zu stellen – aus praktischen Erwägungen: Als er sein digitales Krankenblatt abholen wollte, entdeckte er, dass es sich um eine geschützte Software handelte. „Ich konnte es nicht öffnen und deswegen auch nicht frei im Netz zur Verfügung stellen – obwohl mir dessen Veröffentlichung das Leben retten könnte“, sagte Salvatore. Er hat die Dateien gecrackt, „um sie mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen“. Bei seiner Behandlung setzte er auf den Vorteil des Viele-Augen-Prinzips oder der Schwarmintelligenz und stellte seine gescannte Krankenakte online. Salvatore sieht die Vorteile offener Dateien darin, dass sie von vielen Spezialisten eingesehen und mit weiteren Informationen abgeglichen werden können. Sie ermöglichen der medizinischen Forschung, die Sperren der Pharmaindustrie zu überwinden, und der Medizin, Leben zu retten – anstatt ein Business-Tool zu sein. Inzwischen hat das italienische Parlament seine Idee diskutiert und will prüfen, wie medizinische Daten in Zukunft für Patienten transparenter gestaltet werden können.

Knaak/Pucher: Fences

Mehr als 50.000 Therapievorschläge gingen bei Salvatore ein. Über 90 Mediziner und Wissenschaftler haben ihn beraten. Seine Heilung ist ein dynamischer Prozess, an dem MedizinerInnen verschiedener Fachrichtungen, WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen beteiligt sind. Alle sollen diskutieren, sich gegenseitig beraten und im Austausch untereinander sein. So kommen sie zu einer Lösung, die Menschlichkeit, Technik, Philosophie und Kunst verbindet.

Auch oder gerade weil Salvatores Open Cure Project so kontroversiell diskutiert werden kann – Stichwort „Datenmissbrauch“, Verlust des Arbeitsplatzes, Stigmatisierung, Versicherungsrisiko usw. –, sind wir aufgerufen, Gegenstrategien gegenüber jenen Mechanismen zu entwickeln, die den Menschen als Datenkörper definieren. Wir müssen nicht nur die Datenhoheit zurückgewinnen, sondern eingreifen, wo Maschinen das Kommando übernehmen. Daher sollten wir uns nicht nur in der Beobachtung und kritischen Analyse, sondern im Handeln üben. Die Kunst des taktischen und strategischen Handelns in einer global organisierten Netzwerkkultur erfordert ein Verständnis von digitalen Werkzeugen, die ein emanzipiertes Vorgehen in der Herstellung von Gegenöffentlichkeit ermöglichen.

Was können wir also von HackerInnen und KünstlerInnen lernen? Der ästhetische Mehrwert von Kunst besteht nicht in der Täuschung, sondern in der ihr anhaftenden Kraft, unvorhergesehene und undenkbare Prozesse zu schaffen.

Stefan Sonvilla-Weiss ist Professor für Mediengestaltung und Leiter des Instituts für Kunst und Bildung an der Kunstuniversität Linz.

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Stefan Sonvilla-Weiss ist Professor für Mediengestaltung und Leiter des Instituts für Kunst und Bildung an der Kunstuniversität Linz. Von 2003-2014 war er als Professor und in diversen Leitungsfunktionen an der University of Art and Design Helsinki tätig. Seine internationalen Lehr- und Forschungstätigkeiten führten ihn u. a. an die Oxford University-Internet Institute, Seoul National University-Design Talks, National Institute of Multimedia Education Tokyo, University of the Arts London, Zürcher Hochschule der Künste, Universität Hamburg, ZKM Karlsruhe. Er studierte an der Universität für Angewandte Kunst in Wien bei Peter Weibel und dissertierte bei Manfred Faßler über „partizipative Medienkultur in der virtuellen Bildungslandschaft Österreichs“ und arbeitet seither als Medienkünstler, Universitätslehrer, Multimedia-Entwickler und Initiator zahlreicher Projekte im internationalen Kunst-Medien-Bildungsraum und ist Autor von Synthesis & Nullification. Works 1991 – 2011, (In)visible. Learning to Act in the Metaverse und Virtual School – kunstnetzwerk.at (Peter Lang, 2003) sowie Herausgeber von VIS-A-VIS Medien.Kunst.Bildung, Mashup Cultures und (e)Pedagogy Design – Visual Knowledge Building.

VERWENDETES BILDMATERIAL

Cover: Foto und Arbeit von Anna Miklavcic , Video (Absatz 2): Woess: Keiner für Nichts , Galerie (Absatz 3) : Fotos und Arbeiten von sonvilla_vo_image2, Fotos und Arbeiten von sonvilla_vo_image3 , Galerie (Absatz 4) : Fotos und Arbeiten von sonvilla_vo_image4 , Video (Absatz 7): TEDx Transmedia mit Salvatore laconesi , Video (Absatz 7_image6): Knaak/Pucher: Fences , Galerie (Absatz 7_image7) : Fotos und Arbeiten von Felix-Benedikt Sturm Échelon, Fotos und Arbeiten von Romy Feist #WEARitandSHAREit , Autor: Foto von Barbara Sonvilla-Weiss

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