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von Frank Louis
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Wider diese Angst
– zu den Strategien der Kunst
Als im Jahre 1835 die knapp über sechs Kilometer lange Eisenbahnstrecke zwischen Nürnberg und Fürth eröffnet wurde, gab es viele Zeitgenossen, die vor diesem neuen, für damalige Verhältnisse unnatürlich schnellen Fortbewegungsmittel warnten. Es könne nicht gut sein, sich schneller fortzubewegen, als dies von jeher mit einer Kutsche möglich gewesen sei. Die Höchstgeschwindigkeit der ersten Eisenbahn lag bei 28 Stundenkilometern.
Angst und eine daraus resultierende Ablehnung sind eine verbreitete Reaktion auf Neues und auf Veränderungen. Diese Angst kann unter Umständen durchaus ein guter Ratgeber sein. Immerhin haben die Bedenken der österreichischen Bevölkerung vor der Atomkraft das Land davor bewahrt, in die Atomtechnologie einzusteigen. Und auch eine konservative deutsche Bundeskanzlerin, die als gelernte Physikerin die Atomkraft bisher unterstützt hatte, reagierte auf die Ängste der Bevölkerung nach der Atomkatastrophe von Fukushima, indem sie den Ausstieg aus der Atomkraft durchsetzte.
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Duck and cover wurde in den 1950er-Jahren als Schulungsfilms für Kinder im Auftrag der US-Zivilverteidigungsbehörde gedreht. Bert die Schildkröte weist darin an, wie man eine nukleare Explosion überleben konnte. War der Film damals durchaus ernst gemeint, wirkt er heute unfreiwillig komisch. Ende der 1940er-Jahre verloren die USA ihr Monopol auf die Atombombe, weil auch die Sowjetunion und weitere Staaten nukleare Sprengköpfe besaßen.
Vor Angst bauten sich viele Amerikaner Mini-Bunker. Die Bundesrepublik errichtete zwischen 1960 und 1072 einen riesigen Bunker für Regierung, Parlament und Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes für 3.000 Menschen, die Deutschland im Ernstfall 30 Tage lang am Leben erhalten hätten.
Zurzeit erleben wir Angst allerdings als einen schlechten Berater. Auf die Flucht von Menschen aus dem Mittleren Osten, Afrika und Asien vor Krieg und Perspektivlosigkeit, für die wir Europäer als ehemalige Kolonialherren mitverantwortlich sind, reagieren wir mit Zäunen und Misstrauen. Das Vertraute scheint bedroht und die Zukunft kann nicht mehr linear als eine Projektion der Gegenwart gesehen werden. Diese Unsicherheit schlägt in Angst vor dem Fremden um und lässt ein Europa, das auf dem Weg war zusammenzuwachsen, zersplittern und hätte Österreich beinahe einen offen fremdenfeindlichen Bundespräsidenten beschert, weil dieser versprach, die österreichische Heimat vor Veränderung zu schützen.
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Melilla – die kleinen Festung Europas
Die spanische Exklave Melilla ist eine Stadt mit ungefähr 85.000 EinwohnerInnen an der nordafrikanischen Küste, die von einem über sechs Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben ist und sie vom restlichen Umland Marokkos trennt, um Flüchtlinge daran zu hindern, nach Europa zu gelangen. An der europäischen Außengrenze kommen für den zusätzlichen „Schutz“ vor illegaler Einwanderung Wachtürme, Bewegungsmelder, Radare, Nachtsichtkameras und Tränengasbomben unter der Guardia Civil zum Einsatz.
Die aus Afrika und Syrien kommenden MigrantInnen stranden hier, campieren in den Wäldern oder mieten sich in billigen Hotels ein, um auf den richtigen Augenblick zu warten. Die zirka 30.000 Flüchtlinge riskieren es, bei ihrer Flucht zu sterben: Das Auffanglager CETI in Melilla ist für 480 Personen gebaut und wird zurzeit von 2.600 Flüchtlingen bewohnt.
Gibt es also gute Angst und schlechte? Gibt es eine Angst um das Ganze, um die globale Zivilisation und die gesamte Umwelt, die wir als gut bezeichnen können, weil sie gefährliche Technologien verhindert und dazu animiert, das Gemeinwohl über den eigenen Vorteil zu stellen? Und gibt es im Gegensatz dazu eine kleinliche Angst, eine, die den Zustand innerhalb des eigenen Gartenzauns als ideal setzt und daher jede Veränderung ablehnt, die von außen herangetragen wird? Diese Frage wird hier nicht beantwortet werden. Vielmehr sollen Möglichkeiten beschrieben werden, Veränderungen nicht mit Angst zu begegnen, sondern sie als Chance für eine Weiterentwicklung zu begreifen. Strategien der Kunst, mit Unbekanntem und Unvorhergesehenem umzugehen, sollen hierzu beleuchtet werden, in der Hoffnung, dass diese kunstspezifischen Methoden auch genutzt werden können, positiv auf bereits stattfindende sowie noch bevorstehende Veränderungen zu reagieren.
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Die Amygdala ist ein Teil des Gehirns in Form einer Mandel – Amygdala heißt auf Deutsch Mandel – die zwischen Ohr und Schläfe liegt und wie ein Archiv traumatische Erlebnisse abspeichert. Tritt eine ähnliche Situation auf, erkennt sie diese und sendet Stresshormone wie Adrenalin an das Stammhirn aus. Von dort wird die körperliche Reaktion ausgelöst. Neurobiologisch bedeutet das, Neugier ist das Gegenteil zur Angst: Augen werden aufgerissen, um besser sehen zu können, die Atmung wird schneller, um mehr Sauerstoff ins Blut zu bringen oder die Verdauung langsamer, um Ressourcen zu sparen. Der Körper richtet sich auf Verteidigung oder Flucht ein.
Kunst zu machen bedeutet, etwas Neues entstehen zu lassen, etwas, das es vorher so nicht gegeben hat. Der Prozess, in dem Kunst entsteht, ist immer ein ergebnisoffener Prozess, der seinen Ausgang im Vorhandenen nimmt, sein Ergebnis aber im Unbekannten findet. KünstlerInnen greifen auf ihre Erfahrungen zurück, auf bereits Geschaffenes oder bewährte Strategien der Entwicklung von Werken, wenn sie an eine neue Arbeit herangehen. Das Ergebnis kennen sie jedoch nicht. Daher müssen sie mit der Unvorhersehbarkeit leben und deren Wert schätzen lernen. Hierin kann auch der Grund für eine Art seismografische Gabe gesehen werden, die KünstlerInnen gelegentlich zugesprochen wird. Vielleicht liegt in dieser Offenheit und steten Suche nach Neuem die Fähigkeit begründet, einen Wandel in der Gesellschaft wahrzunehmen und diese Veränderung in Form von Kunst sichtbar werden zu lassen.
Verstärkt wird diese Unvorhersehbarkeit und die damit verbundene Offenheit dem Ergebnis gegenüber nochmals durch die Arbeit mit Materialien. Jedes verwendete Material – und dies gilt sicherlich für jegliches Medium – hat ein Eigenleben, sodass Kunstwerke nicht nur in ihrer konzeptionellen Entstehung unvorhersehbar sind, sondern auch in ihrer Umsetzung. Ihr In-die-Welt-Kommen folgt eben nicht ausschließlich den Vorstellungen der Künstlerin oder des Künstlers, sondern diese werden immer mit den Eigenschaften des Materials in Kollision gebracht.
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„Wir leben alle in einem Gefängnis. Meine Aktionen sind ein Versuch, die tierische Angst zu überwinden, die jeder von uns spürt", Der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski reizt die Grenzen von Fragen zur Kunst über allem Maßen aus. Bekannt wurde er mit Naht. Als Reaktion auf die Festnahme der Mitglieder der Band Pussy Riot hat sich Pawlenski den Mund zunäht, bei Kadaver hat er sich nackt in eine Stacheldrahtrolle gewickelt und vor dem Parlament von St. Petersburg aufgestellt und mit „Fixierung“ sitzt er mit angenageltem Hodensack am Roten Platz in Moskau fest. Pawlenski musste sich im Juni 2016 wegen mutwilliger Beschädigung eines Kulturguts – der Lubjanka, die Tore der FSB-Zentrale – vor Gericht verantworten. Er hatte sie im Herbst des Vorjahres angezündet. Er selbst forderte eine 20-jährige Haftstrafe. Zuvor erhielt er den internationalen Václav-Havel-Preis für kreativen Dissens. Verurteilt wurde er gegen seinen Willen lediglich zu einer Haftstrafe.
Besonders die Arbeit mit keramischen Materialien birgt eine Reihe solcher Unwägbarkeiten. Ton trocknet und schrumpft dabei, er muss gebrannt werden, wobei er seine Farbe ändert und sich unter Umständen verformt, bevor er seine endgültige Festigkeit erreicht. Danach kann das erhärtete Objekt glasiert werden, wobei die Schmelzprozesse von Glasuren, die sich zwischen 1.050 und 1.230 Grad Celsius abspielen, derart vielfältigen Faktoren ausgesetzt sind, dass es beinahe unmöglich ist, zweimal das gleiche Ergebnis zu erzielen. Wenn man also nicht die Haltung einnimmt, dieses Eigenleben als positiven Beitrag zur Entstehung der Werke zu sehen, würde man am keramischen Material verzweifeln. Und als wäre all dies nicht genug, ist das, was hier als ein Nacheinander skizziert wurde – die Entwicklung einer Idee und deren Umsetzung –, in Wahrheit miteinander verschränkt. Beim Tun entsteht eine Idee, aus einem Zwischenschritt eine neue Form und so weiter. Insofern ist die Arbeit mit Materialien in besonders starker Weise eine Begegnung mit dem Unerwarteten. Nicht nur tastet sich die Idee in immer neue Gebiete, parallel hierzu muss auch das zufällig so Geschehene oder doch nicht ganz so Gewollte in die eigene Ideenwelt integriert werden – oder aber verworfen.
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Die Porzellan-Manufaktur Allach-München wurde im Auftrag Heinrich Himmlers gegründet. Die Produkte der Manufaktur sollten die „Erziehung zum nationalsozialistischen Menschen unterstützen“. Mit Künstlern wurden Verträge abgeschlossen, SS-Runen zum Markenzeichen bestimmt. Auch der von Himmler zum Julfest verschenkte „Julleuchter“ wurde dort erzeugt. Als die Anlagen in Allach zu klein wurden, verlagerte Himmler das Werk in das Konzentrationslager Dachau und setzte auch Häftlinge des KZ Dachau für die Produktion ein. Adler, Pferd und Schäferhund waren die beliebtesten Produkte. Kraft, Stärke und Bewegung sollten symbolhaft zum „Schutz der deutschen Seele“ beitragen und aus ideologischer Sicht die heile Welt der Natur in deutsche Heime bringen. Der Schäferhund war vor allem während der NS-Zeit Zeit für viele Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge Symbol von Terror und Gewalt der SS-Aufseher.
Kommen wir wieder zurück zur oben beschriebenen Angst vor Veränderung. Mit einer sich verschließenden, ablehnenden Haltung könnte keine interessante Kunst entstehen. Und im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wer Kunst machen will, Prozesse, deren Ausgang unabsehbar ist, nicht als Bedrohung begreifen darf, sondern als Chance annehmen muss, über das Bekannte hinaus in unbekannte Bereiche vorzudringen. Damit sollen nicht etwa Veränderung und das Neue per se als Verbesserung angepriesen werden. Im Entstehungsprozess von Kunst nehmen die Reflexion und die Kritik der sich ergebenden Möglichkeiten einen breiten Raum ein und das Verwerfen von Probiertem ist unerlässlich. Nur darf es eben keine prinzipielle Ablehnung des Unbekannten, sich neu Entwickelnden geben – mit ihr ginge nichts.
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Der britische Keramikkünstler, Autor und Kurator Edmund de Waal empfand es als "ungeheuer befreiend und motivierend“, was ihm einst ein Lehrer sagte: „Die ersten 30.000 Töpfe, die du machst, sind die schlechtesten.“ Für de Waal heißt das: „Mit Eile kommst du nirgendwohin.“
Als Lehrendem an dieser Kunstuniversität begegnet mir besonders bei StudienanfängerInnen häufig eine Furcht vor dem Nichtabsehbaren. Oft ist bei ihnen ein Bedürfnis zu spüren, möglichst schnell ein vorstellbares Bild eines Kunstwerkes entstehen zu lassen und dieses dann ohne weitere Infragestellungen und Veränderungen umzusetzen. Dieses heuristische Verfahren, bei dem das Bild einer Arbeit plötzlich erscheint, für gut befunden wird und dann ohne irgendeine Modifikation umgesetzt wird, steht im Gegensatz zu dem oben skizzierten prozessualen Vorgehen. Letzteres lernen die Studierenden in der Regel erst nach einiger Erfahrung zu nutzen, nachdem sich das Vertrauen entwickelt hat, dass die Entfernung vom ursprünglich ins Auge gefassten Bild eines Werkes dieses letztlich interessanter macht. Erst dann beginnen sie, dem sich Entwickeln von Ideen und einer interessierten Beobachtung von Unfertigem und Vorläufigem positiv gesinnt zu sein. Das Tempo, mit dem Studierende diese Haltung ausprägen, ist individuell unterschiedlich – fast alle nehmen sie jedoch im Laufe des Studiums ein. Insofern wird in der Ausbildung an einer Kunstuniversität eine Grundhaltung geübt, die vorbildhaft für eine ganze Gesellschaft sein könnte: eine Einstellung, die Neuem prinzipiell offen entgegentritt, die sich auf Wege einlässt, ohne das Ziel zu kennen, und die der Angst vor Entwicklungsprozessen misstraut.
Wäre es nicht wünschenswert, dass wir anstehende Fragen der Gesellschaft aufgeschlossen diskutierten? Etwa die, wie eine zukünftige Mobilität aussehen könnte? Wenn wir bereit wären, verschiedene zukunftsweisende Modelle auszuprobieren, anstatt schnell noch einen SUV zu kaufen, aus dem Reflex heraus, am Vertrauten festzuhalten? Und wäre es nicht wünschenswert, zuzulassen, dass ein Land sich verändert, indem es neue Bürger aufnimmt und diesen eine Perspektive bietet? Eine Gesellschaft also, die auf neue Situationen und die sich aus ihnen ergebenden Veränderungen flexibel reagiert, ohne Gewissheit über das Ergebnis, aber aus Neugier den Verlauf der Geschichte mitgestaltend?
Özogul: Angst
Eine Angst, die speziell mit der Rolle des Lehrenden an einer Kunstuniversität verknüpft ist, bleibt jedoch: die Befürchtung, nicht jeden einzelnen Studierenden ausreichend auf ein Leben als Künstlerin und Künstler vorbereiten zu können. Angesichts der vielfältigen Anforderungen, die eine erfolgreiche Karriere im Feld der Kunst stellt, erscheint eine solche nur schwer zu realisieren. Kunstschaffende müssen heute nicht nur innovativ sein, sondern darüber hinaus gut vernetzt, mit Managementfähigkeiten ausgestattet und dann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Daher gilt all jenen, die es wagen, diesen Weg einzuschlagen, nicht nur die bestmögliche Unterstützung, sondern auch die sicher nicht ganz unbegründete Sorge, ob dieser ihnen auch glücken wird. Wenngleich das eigentliche Ziel des Studiums, nämlich die Künstlerinnen und Künstler von morgen auszubilden, nicht aus den Augen verloren werden darf, so lässt sich doch Folgendes feststellen: Einiges ist bereits gewonnen, wenn Studierende gelernt haben, auf Veränderungen nicht reflexartig mit Ablehnung zu reagieren. Wenn es ihnen gelingt, die für das Kunstmachen unerlässliche aufgeschlossen-erkundende Haltung auf ihr gesamtes Leben anzuwenden, besitzen sie eine Gabe, die nicht nur für sie persönlich bereichernd ist, sondern die für eine Gesellschaft im Angesicht immer neuer Herausforderungen produktiv werden kann: die Fähigkeit, das den bevorstehenden Wandlungsprozessen innewohnende Potenzial zu erkennen und so eine – unvorhersehbare – Zukunft mitzugestalten.
Woess: Alles wird immer weniger
Buchtipps
Edmund de Waal Die weiße Straße, Zsolnay-Verlag
Sabine Joachimides, Alexis Krieger und Verena Fastert, Die Wiederkehr des Künstlers: Themen und Positionen der aktuellen Künstler/innenforschung (Kunst – Geschichte – Gegenwart)
Karl-Josef Pazzini, Bildung vor Bildern: Kunst – Pädagogik – Psychoanalyse; Transkript Verlag
Uwe Fleckner, Der Künstler als Seismograph. Zur Gegenwart der Kunst und zur Kunst der Gegenwart. FUNDUS Band 198
VERWENDETES BILDMATERIAL
Cover: Foto und Arbeit von Isabel Erlebach
,
Galerie
(Absatz 7)
:
Fotos und Arbeiten von Adam Ulen Sandy, Fotos und Arbeiten von Lukas Kopf Loch im Zaun , Video (Absatz 8):
Özogul: Angst
, Video (Absatz 9):
Woess: Alles wird immer weniger
, Autor: Foto von Isis Ibrahim
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ANMERKUNGEN UNSERER LESER_INNEN
Sich auf Neues einlassen und Neues auf sich zukommen lassen, den Prozess des Schaffens als Inspiration zu sehen: dabei entsteht oft ein viel interessanteres Endprodukt, betont Frank Louis in seinem Text „Wider diese Angst“. In der visuellen Umsetzung wird dem Nutzer, der Nutzerin die Möglichkeit gegeben, durch einen ungezwungenen und spontanen Prozess ein besonderes und individuelles Kunstwerk zu erschaffen.
"Visuelle Interpretation von Andrea Eiber, Koen Engelen
zum Text „Wider diese Angst“ von Frank Louis"
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