05/12
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von Thomas Macho
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Abwehrmechanismus versus Angst?

Zu den beliebten Sätzen zeitgenössischer Politik zählt: Man muss die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen. Er reflektiert den Erfolg rechtspopulistischer Parteien und die so genannte „Flüchtlingskrise“ – ein peinlicher Begriff, zielt er nicht auf Bürgerkriege, Hungersnöte oder zusammenbrechende Staaten, sondern auf Migrationsströme in Europas reiche Staaten – als bestünde die „Krise“ nicht darin, dass seit 2014 über 10.000 Flüchtlinge ertrunken sind, sondern dass sie in Italien oder Griechenland tatsächlich ankamen.

Wir müssen die Angst der eigenen Bevölkerung ernst nehmen, heißt es dennoch in den Gastländern; wie aber kann diese Angst ernst genommen werden? Soll sie respektiert, verstanden oder bestätigt und sogar geschürt werden? Zu den bekanntesten Überlegungen der Philosophie, die Einfluss auf psychologische oder psychoanalytische Theorien ausgeübt haben, zählt Søren Kierkegaards Differenzierung zwischen Angst und Furcht von 1844. Die Furcht, so argumentierte der dänische Philosoph, beziehe sich auf konkrete Umstände und Objekte; die Angst dagegen sei unbestimmt, diffus, unheimlich. Sie richte sich auf keine bestimmten Anlässe und Gegenstände, sondern eigentlich auf nichts; als Existenz- und Todesangst sei sie aber auch ein Element aller Freiheitserfahrungen.
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Thomas Hobbes (englischer Mathematiker, Theoretiker und Philosoph), der in seiner Autobiographie (Vita carmine expressa, 1679) schreibt, das einzige Gefühl seines Lebens sei die Angst gewesen, zeigt, dass sich die moderne Politik die Angst einverleibt und zum Zweck der Einheit des Staates produktiv einbringt, ohne dazu den Weg über die Tugend zu nehmen. Stattdessen wird Angst in einer vom Ursprung her horizontalen Achse angeordnet: die gegenseitige Angst der Menschen voreinander. In neuartiger Weise wird ausgehend davon eine vertikale und rationale Vermittlung der Angst errichtet. Eine Überwindung der Angst findet auch dabei nicht statt, sondern es vollzieht sich vielmehr ihre in die Form des Gesetzes umgewandelte latente Permanenz. (Carlo Galli Das Kalkül der Angst, Lettre International, 097, 2012)

Sigmund Freud hat diese Unterscheidung auf Trauer und Melancholie angewendet: Die Trauer verarbeite den Verlust eines geliebten Objekts, während die Melancholie gleichsam objektlos bleibe. Anders als die realitätsnahe Furcht, die zu Flucht, Panik oder Wut führe, reagiere die Angst auf Impulse des Unbewussten, des Es oder Über-Ich – und muss darum abgewehrt werden. Freuds Tochter Anna hat die Strategien dieser Abwehr als „Abwehrmechanismen“ analysiert und klassifiziert; zu ihnen gehören etwa Verdrängung, Regression, Verleugnung, Verschiebung, Projektion oder Rationalisierung.

Schink: Tischgespräche

Wir sehen schon: Die Forderung, kollektive Ängste ernst zu nehmen, kann gar nicht leicht erfüllt werden, es sei denn, es geht nur um Propaganda, Macht und die nächsten Wahlen. Beginnen wir mit einem Beispiel. Warum ist die Angst vor Migrationsströmen – und die Zustimmung zu rechtspopulistischer Politik – gerade in Gegenden, in denen zwar nur wenige Flüchtlinge ankommen, aber eine ökonomische Abhängigkeit vom Fremdenverkehr besteht, so hoch? Tourismus ist ein anstrengendes Geschäft. Fremde Gäste müssen hofiert, umworben und bedient werden, womöglich mit mehrsprachigen Speisekarten und Werbeplakaten; die Arbeit ist zeitaufwendig und hart. Anpassungsbereitschaft und Geduld sind unverzichtbare Tugenden.
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Die der Angst eigene strukturelle Produktivität kommt erst zum Ausdruck, wenn von der anthropologischen Annahme ausgegangen wird, dass die Menschen „rei“ (schlecht; Machiavelli) oder furchtsam und aggressiv (Hobbes) sind, oder wenn die sozialen Bindungen nicht mehr durch Moralität, Natürlichkeit oder eine gegebene Ordnung begründet werden. In diesem erst eigentlich modernen Horizont passiert es, dass die Angst des Einzelnen – welche in der Antike nur dann gesellschaftlich relevant war, wenn es darauf ankam, sie als Schwäche zu vermeiden und durch Vernunft und Tugend zu überwinden – ein zentrales Gefühl wird, das von der Politik als ursprünglich konstitutives Material instrumentalisiert wird. Die Angst wird zum Anfang, zum Antrieb der Politik (Hobbes) oder zu einem ihrer wesentlichen Bestandteile (Machiavelli). Anders gesagt, die Politik macht aus ihr als einem eigentlich passiven ein aktives Gefühl. (Carlo Galli Das Kalkül der Angst, Lettre International, 097, 2012)

Vor rund vier Jahrzehnten wurde ich unfreiwilliger Ohrenzeuge des folgenden Wortwechsels an einem Kärntner Seeufer: Sagt der eine: „Was bin ich froh, dass die Saison zu Ende ist“; erwidert der andere: „Na ja, aber die Fremden bringen das Geld ins Land“, worauf sein Gesprächspartner mit einem Stoßseufzer bemerkt: „Sie könnten es ja auch überweisen“. Und umgekehrt? Wie kommen wir dazu, dass unsere beliebtesten Urlaubsziele – von Antalya bis Latakia, Tunis oder Nizza – durch Bürgerkriege und Anschläge verheert und bedroht werden? Am 22. September 2014 konstatierte die Tageszeitung Die Welt, die touristische Zukunft Syriens sei „ungewiss und düster“; vor einiger Zeit meldete dagegen die staatliche Tourismusbehörde des Landes, die Buchungen seien um 30 Prozent gestiegen. Dabei liegt etwa ein Urlaubsort wie der syrische Goldstrand, nahe der Küstenstadt Tartus, nur 100 Kilometer hinter der Front zum IS.

Eric Fischl: A Visit To / A Visit From / The Island (1983), Öl auf Leinwand, 213,4 × 426,7 cm (Whitney-Museum New York)

Vor mehr als 30 Jahren – damals überquerten noch keine Flüchtlingsboote das Mittelmeer – malte der US-amerikanische Künstler Eric Fischl ein realistisches großformatiges Doppel-Ölbild, das heute im New Yorker Whitney-Museum of American Art hängt. Die Stimmungen der beiden Bildteile könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Auf dem linken Bild sehen wir eine Strandszene mit einem Motorbootfahrer und einer Frau, die sich auf einer Luftmatratze sonnt; das Wasser ist ruhig, der Himmel blau. Auf dem rechten Bild scheint stürmisches Wetter zu herrschen, der Himmel ist dunkel, die See bewegt. Wir sehen, wie eine Gruppe von schwarzen Männern und Frauen einander aus dem Meer zieht. Das Bild ist nach einer Fotografie entstanden, auf der Flüchtlinge aus Haiti zu sehen sind, die gerade an der Küste Floridas ankommen. Die Bildkompositionen der beiden Bildteile gleichen einander: nackte, liegende Körper im Vordergrund, die Grenzen zwischen Himmel und Meer verlaufen in derselben Höhe. Das linke Bild zeigt eine Familie auf Strandurlaub in Haiti; das rechte Bild zeigt Menschen, die ihr Leben riskiert haben, um von derselben Insel zu fliehen. A Visit To / A Visit From / The Island: Entspannung korreliert szenisch mit der Erschöpfung. Das Doppelbild konfrontiert nicht nur Reiche und Arme, Weiße und Schwarze, sondern auch die Migrationsströme des Tourismus und der Flucht.

Wovor haben wir Angst? Welche Bilder werden projiziert und verschoben? Betrachten wir ein zweites Beispiel. Warum ist die Angst vor Migranten und die Begeisterung für rechtspopulistische Politik gerade im Osten Deutschlands so hoch? Die Antwort fällt leicht, sobald wir auf die Verdrängungen und Projektionen achten. In Ostdeutschland lebt eine Bevölkerung, die jahrzehntelang mit Themen der Flucht beschäftigt war: Nicht umsonst wurde die Berliner Mauer errichtet. Ein Teil ist tatsächlich geflohen, oft unter lebensgefährlichen Umständen; ein anderer Teil ist geblieben. Als die Wende kam, wurde den Ostdeutschen – etwa in einer Fernsehansprache Helmut Kohls vom 1. Juli 1990 – versichert, es werde gelingen, »Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln, in denen es sich zu leben und zu arbeiten lohnt«. Das Versprechen konnte nur sehr partiell erfüllt werden; wieder zogen viele weg, andere blieben. Ein wachsender Prozentsatz der Menschen, die geblieben sind, polemisiert heute gegen eine befürchtete Islamisierung und die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, läuft auf Pegida-Demonstrationen und wählt die AfD. Was wird hier offensichtlich abgewehrt? Die eigenen, vielleicht jahrzehntelang unterdrückten Freiheitswünsche, die Sehnsucht, endlich das Land zu verlassen, das nur allzu selten als Heimat wahrgenommen werden konnte?
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Der US-Maler und Bildhauer Eric Fischl (1948) zählt zu den wesentlichen Vertretern des Amerikanischen Realismus. Sein Interesse dreht sich um die Abgründe menschlicher Existenzen und spiegelt sich in der Darstellung einer von Ängsten und Zwängen geprägten Atmosphäre wider. Im Gegensatz dazu steht seine leichte Malweise, eine helle Palette aus zumeist gelben und roten Farbtönen sowie die leicht erscheinenden sonnendurchfluteten Settings gepaart mit starke Kontrasten. Nach dem 11. September 2001 entwickelte Fischl ten breths aus Gouachen und Skulpturen, die stürzende Menschen aus den World Trade Center zeigt. In Tumbling Woman – eine Frau im freien Fall – verarbeitete er Pressebilder der sich aus den Fenstern stürzenden Opfer. Eine Serie, die in den USA durchaus kontrovers diskutiert wurde.

Wer die Ängste der Menschen verstehen will, muss die Abwehrmechanismen ernst nehmen, die sich in ihnen manifestieren; er muss aufklären, aber nicht mit dem Vokabular der Moral und Belehrung, denn diese Art von Aufklärung zielt neuerlich nur auf das Unbewusste, das Über-Ich, das die Einhaltung von Regeln fordert: für den kargen Lohn eines guten Gewissens. Wichtiger wäre eine Erweiterung der Wahrnehmungshorizonte, wie sie die Künste ermöglichen, eine Benennung der Zusammenhänge und Kontexte, die diffus und unheimlich in unserer Angst erscheinen, eine Erinnerung an die eigene Beweglichkeit und Freiheitssehnsucht. Das doppelsinnige Bild vom Inselbesuch könnte weiter ausgemalt werden; fortgeführt werden könnten die heiteren Flüchtlingsgespräche, die Bertolt Brecht in den frühen Vierzigerjahren verfasst hat. In diesen Dialogen sagt Kalle: „Sonst hör ich immer, man soll verwurzelt sein. Ich bin überzeugt, die einzigen Geschöpfe, die Wurzeln haben, die Bäum, hätten lieber keine, dann könnten s’ auch in einem Flugzeug fliegen.“

Unlängst erst hat George Steiner, Philosoph und Poet in Cambridge, diese Wahrnehmung Kalles bestätigt: „Der Baum hat Wurzeln; ich habe Beine. Und dies ist ein großartiger Fortschritt. Ich liebe die Bäume. Die in meinem Garten vergöttere ich. Aber wenn der Sturm kommt, brechen sie und stürzen; der Baum kann, ach, von Axt oder Blitz gefällt werden. Ich dagegen kann laufen. Die Beine sind eine Erfindung erster Güte“.

Ferlin: 15 Jahre und keine Antwort

Thomas Macho ist Kulturwissenschaftler, Philosoph und seit 2016 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien.

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Thomas Macho ist Kulturwissenschaftler, Philosoph und seit 2016 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) in Wien. Er lehrte als Professor von 1993 bis 2016 Kulturgeschichte an der Humboldt Universität zu Berlin, promovierte 1976 mit einer Dissertation zur Musikphilosophie an der Universität Wien und habilitierte sich mit einer Arbeit über Todesmetaphern 1983 für das Fach Philosophie an der Universität Klagenfurt. Macho war Mitbegründer des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik. Von 2008 bis 2009 war er Fellow am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar; von 2009 bis 2011 Direktor des Instituts für Kulturwissenschaft. Im Studienjahr 2013/14 war er Fellow am Internationalen Kollege Morphomata an der Universität Köln.

VERWENDETES BILDMATERIAL

Cover: Foto und Arbeit von Anna Christina Miklavcic , Video (Absatz 2): Schink: Tischgespräche , Galerie (Absatz 4) : Fotos und Arbeiten von Bomi Ahn Selfie Portrait, Fotos und Arbeiten von Bomi Ahn Mom & Baby, Fotos und Arbeiten von Mahsa Teymouri 71 , Galerie (Absatz 7) : Fotos und Arbeiten von Moritz Oliver Benatzky, Tina Cerpnjak, Asena Colak, Florian Hummer, Gabriele Pitacco Don’t Panic – Vitanje Space Call, Fotos und Arbeiten von Michael Dorfer Super Refugee World , Video (Absatz 8): Ferlin: 15 Jahre und keine Antwort , Autor: Foto von Jan Dreer für IFK

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Warum können sich manche Menschen frei über Grenzen hinweg bewegen und andere nicht? Wie fühlt es sich an, abgewiesen zu werden. Ausgehend von Eric Fischls Gemälde „A Visit To / A Visit From / The Island“ habe ich ein Szenario entwickelt, welches aus zwei Perspektiven gespielt werden kann - entweder als Urlauber am Strand oder als gestrandeter Flüchtling. SMS an seinen Liebsten schlagen in beiden Fällen fehl, weil der Akku leer ist. Die Herausforderung, diese Aufgabe dennoch zu lösen, ist abhängig vom Land, aus dem man zufälligerweise kommt. Auf Grundlage des Global Peace Index wurden die zehn friedlichsten und zehn am wenigsten friedlichen Länder ausgewählt. Hat man Glück, ist das Ziel in wenigen Taps erreicht - hat man Pech, bleibt das Ziel in weiter Ferne.
Ein virtuelles Spiel von Theres Duschlbauer und Florian Knoll zum Text „Abwehrmechanismus versus Angst“ von Thomas Macho
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