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von Thomas Raab
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Soll und Haben
der Angst

Eine Meditation

Sehen wir’s positiv: Die andere Seite der Angst

Die deutsche Sprache unterscheidet ungenauer als die englische zwischen den Begriffen „Angst“ und „Furcht“. Während „fear“ typischerweise für das (auch vorwegnehmende) Zurückschrecken vor konkreten Dingen, einer Schlange meinetwegen, bedeutet und „anxiety“ ein unbekanntes oder diffuses Motiv konnotiert, kann man im Deutschen durchaus „Angst vor der Schlange“ haben, die sich da vor unseren Füßen schlängelt.

Kurz gesagt: Angst ist eine hemmende „Vorwegnahme“ von Furcht, die ihrerseits die (gerade noch) hemmende energetische Vorbereitung einer reflexhaften Schutzmechanik darstellt. Daher wird Angst meist negativ aufgefasst. Als Doppelhemmung macht sie naturgemäß „unproduktiv“. Aber – und hier dürfen sich alle Chefs freuen – ihre Schutzfunktion dient ja etwas Schützenswertem. Nur, wer etwas zu schützen hat, muss Angst haben. Daher ist jede Angst immer die Kehrseite einer Motivation. Ohne einen wenigstens impliziten Zielzustand, d. h. ohne Hoffnung gibt es keine Angst. Zum Beispiel: Ich muss, sagen wir, etwas öffentlich vortragen und habe Angst, meine Show werde scheiße, die Stimme versage, die Leute würden denken, ich sei ein Trottel, unsympathisch etc. (An dieser Aufzählung würde der Therapeut natürlich mit seiner Analyse beginnen, sie ist in ihrer Oberflächlichkeit nämlich ein Hinweis auf das „wahre“ Motiv – Narzissmus zum Beispiel.)
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Wolfgang Schmidbauer, Psychoanalytiker, Supervisor und Coach: „Führungsaufgaben sind im Grunde Beziehungsaufgaben ... Es gibt viele pseudostarke Chefs, deren Narzissmus nicht in der Balance ist ... alle Menschen haben Anerkennungsbedürfnisse. Der Narzissmusbegriff ist nützlich, um die Belastbarkeit des Selbstgefühls zu beurteilen. Ist die narzisstische Struktur stabil, sagt der Vorgesetzte: Der Mitarbeiter hat einen Fehler gemacht, arbeitet jedoch sonst gut, ich konfrontiere ihn, vermittle ihm gleichzeitig aber meine Wertschätzung. Ein anderer Chef kann Kränkungen nicht angemessen verarbeiten. Sein Selbstgefühl bricht unter Belastung zusammen. Er zeigt destruktive Reaktionen, um das auszugleichen, reagiert auf den Fehler eines Mitarbeiters so, als wäre dieser ein totaler Versager, entwertet ihn ab und ist, bewusst oder unbewusst, überzeugt, dass er damit im Recht ist.“

Allerdings ist Angst, besonders dort, wo sie nicht Furcht vor einem konkreten Verlust – der körperlichen Integrität, Gesundheit, finanzieller Art, Hunger usw. – vorwegnimmt, meist so diffus, dass sie zwar zum Teil sehr konkrete, bis zur Katatonie reichende Symptome bedingt, diese aber nicht eindeutig Zielen zuordenbar sind. Wir wissen, dass wir vor „etwas“ Angst haben, nämlich weil wir die Symptome erkennen, aber nicht, was dieses „etwas“ ist. Welches Ziel, welches Motiv quält uns da?
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Die Katatonie ist ein psychosomatisches Syndrom, dass eine körperliche (An-)Spannung von Kopf bis Fuß beschreibt. Katatonie äußert sich in unnatürlichen, stark verkrampften Haltungen des ganzen Körpers wie beispielsweise eine Starre am ganzen Körper, beharrlichem Schweigen, absurden Haltungen bis hin zum Widerstand gegenüber allen Aufforderungen bzw. Versuchen, sich zu bewegen.

Halten wir fest: Wir haben zwei Arten von Zielen, deren Gefährdung Angst begründet: erstens konkrete Ziele, die ich entweder weiß oder aber mit anderen konkreten Deck-Zielen verhülle – damit’s nicht so peinlich wird. Die Vermutung liegt nahe, dass solche Deck-Ziele Verschiebungen in einen sozial akzeptableren Ziel-Bereich darstellen. Zweitens gibt es diffuse Ziele, von denen ich nur indirekt weiß, weil ich eben Angst habe. Letzte äußern sich nichtsdestoweniger oft sehr deutlich in Stimmungslagen, Stimmungsschwankungen etc. Eine der Leistungen Freuds bestand gerade in der politisch inkorrekten Vermutung, dass solcherart diffuse Motive oder auch „harmlose“ Deckmotive – wie oben anhand des Narzissmus exemplifiziert – die wahren Motive (bei ihm sexueller/gewalttätiger Art) und somit den Blick auf die „neurotischen“ Säulen unserer Ich-Konstruktion verbrämen. Nichtsdestoweniger seien solche Verdrängungen und Verschiebungen genau jene Kraft, die hinter großen Leistungen, auch in der Kunst, stünden.

Sehen wir’s also positiv: Ohne Angst keine Kunst.

Sehen wir’s negativ: Das fest verdrahtete Ziel

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Rosalind Krauss schrieb 1976 den Artikel Video: The Aesthetics of Narcissism, in dem sie das Video als das Medium des Narzissmus erklärt: In that image of self-regard is configured a narcissism so endemic to works of video that I find myself wanted to generalize it as the condition of the entire genre. Krauss hält zunächst fest, dass in den damaligen Videos meist der Körper eines Menschen, häufig des Künstlers oder der Künstlerin im Mittelpunkt des Videos stehe. Andere künstlerische Medien wie die Malerei, die Skulptur oder der Film hätten mehr mit Objektivität zu tun, mit Materialien. Video dagegen beschäftige sich mehr mit einer Art „Versuchsanordnung“: Yet with the subject of video, the ease of defining it in terms of its machinery does not seem to coincide with accuracy and my own experience of video keeps urging me the psychological model.

Der biologische Unterbau der Angst, Schutzreflexe zur Wahrung der körperlichen Integrität, wurde von manchem Guru geleugnet. Ich halte dies für kindisch. Das Motiv der körperlichen Integrität – ohne die wir nicht denken würden, da unser Denken dem Finden einer möglichst geschützten Nische dient – zu leugnen hieße, unseren Antrieb zu leugnen. Daher ist die einfachste und eleganteste, wiewohl therapeutisch meist zu unspezifische Hypothese, dass es sich bei der diffusen Angst auch um eine Form der Abwehr des Gedankens des allgemeinen Zerfalls und Todes handeln kann. Immerhin weht uns ja allen der Gedanke ins Gesicht, das wir dereinst „nicht mehr da sind“.
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„ ... es steht fest, dass das Angstproblem ein Knotenpunkt ist, an welchem die verschiedensten und wichtigsten Fragen zusammentreffen, ein Rätsel, dessen Lösung eine Fülle von Licht über unser Seelenleben ergießen müsste. Ich werde nicht behaupten, dass ich Ihnen diese volle Lösung geben kann, aber Sie werden gewiss erwarten, dass die Psychoanalyse auch dieses Thema ganz anders angreifen wird als die Medizin der Schulen.“ (Sigmund Freud)

Freud nannte dies imposant „Todestrieb“. Wir strebten, ohne es zu wissen, nach Ruhe und Geborgenheit, hätten zugleich aber auch Angst vor ihr, da wir durch die Ruhe aus dem Sozialen, aus der Aktivität, d.h. aus dem Normalen kippen. Freud impliziert, dass die durch vorgeschobene Ziele verdeckten wahren Ziele und die aus der diffusen Angst zu schließenden Ziele sich gleichsam überschneiden, wenn nicht eins sind. Das „psychisch Tiefste“ des Menschen ist zugleich sein „am meisten Biologisches“. Alle Motive, deren Kehrseite die Ängste sind, seien überhaupt anderer, brutalerer, tierischer Art. Es sind zerstörerische, egozentrische, koloniale, sexuelle Triebe.

Kurioserweise kann uns also unsere biologische Natur aus dem Sozialen, aus der Natur treiben, und zwar wenn diese Kultur Widersprüche enthält, die wir nicht, wenigstens provisorisch, zu unwidersprüchlichen „Handlungsbereitschaften“ ordnen können. Ein Teil unserer Orientierung hemmt dann einen anderen, der Körper zeigt Symptome. Und jede Kultur enthält, allein da sie aus einer ganzen Schichtfolge archaischer, alter und neuer Sitten besteht, zahllose Widersprüche. Die Angst des Neurotikers ist reflexhafter Schutz vor bestimmten dieser Widersprüche.

Als Hinweis auf Motivation im Allgemeinen muss demnach jede Angst, zumindest im augenblicklichen Gesellschaftsrahmen, der ja das „normale Verhalten“ vorgibt, ambivalent gedeutet werden. Angst verweist auf große, produktive Energien, droht aber zugleich die Lebensqualität einzuschränken.

Tatsache ist allerdings, dass die Angst mit dem Unwichtiger-Werden von Triebziel und gesellschaftlichen Druck abnehmen sollte und dies auch tut. Der alte Mensch muss sich nicht fürchten, wenn er es schafft, sich mit dem Zerfall zu arrangieren. Das heißt aber auch: Angstlosigkeit muss man sich „leisten“ können. Die angedeuteten „Abrechnungen“ zwischen biologischen und sozialen Motiven – zwischen „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ – ergeben eine zeitlich dynamische Ökonomie der Motivation, deren laufende Bilanzierung unsere Ängste und Stimmungen steuern.
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„Die Menschen werden hauptsächlich von zwei Haupttrieben beherrscht: von Liebe und Furcht. Es beherrscht sie also gleichermaßen derjenige, der ihre Liebe gewinnt, wie der, der ihnen Furcht einflößt; ja meistens findet sogar der, der ihnen Furcht einflößt, mehr Folgsamkeit und Gehorsam als der, der ihnen Liebe entgegenbringt.“ (Niccolo Machiavelli, italienischer Staatsmann und Schriftsteller)

Abgesehen vom banalsten Sinn dieser Ökonomie – nämlich, dass wir uns mit Geld Distanz zum Scheußlichen und Fürchterlichen kaufen können – schwingt hier noch etwas „Tieferes“ mit. Nicht nur jeder Mensch, auch jede Lebensphase hat ihre eigene Bilanz. So verdanken sich die krassen Ängste und Hoffnungen der Adoleszenz, die gerade jeder Kunstuniversität ihre spezielle Aura geben, dem tatsächlich „übermenschlichen“ Motiv, in unserer wirren, sarkastischen und selbst orientierungslosen Gesellschaft privat wie beruflich eine Nische zu finden. Der alternde Mensch wiederum hat andere Ängste, hat doch in der Blüte seiner Kraft doch zugleich auch der Sterbeprozess begonnen. Erst wenn man sich mit dem Tod angefreundet hat, lassen Motivation und Angst nach. Denn nur wer glaubt, etwas zu verlieren zu haben, braucht Hoffnung und Motiv. Und handelt sich damit eben Ängste ein.

Angstlosigkeit, so sie erwünscht ist, erfordert also die „gewohnheitsmäßige“, d.h. in Fleisch und Blut übergegangene Einsicht, dass Tod und Leben, wie sie als Tiefenmotive in die Angst durchschlagen, selbst archaische Vorstellungen sind, die mit dem biologischen Lebensbegriff nichts zu tun haben. Ein Lebewesen hat keine „wahre Identität“, die man „Ich“ nennen könnte, weil es stets in einem biologisch-sozialen Funktionszusammenhang eingebettet bleibt. Es hat aber auch keine falsche Identität. Wir sterben nicht, und zwar nicht weil wir nicht sterben, sondern weil wir als solche nie da waren! Sich von der Ich-Gewohnheit, an ein „Eigenes“, an eine „Substanz“, ein „Ich“ zu glauben, zu lösen ist daher seit jeher das Ziel aller Mystik. Tiefentherapie hieße Heilung durch Hemmung von Handlung und Hoffnung.

So weit, so theoretisch ...

Thomas Raab ist Autor, Übersetzer und Herausgeber mit naturwissenschaftlichem Hintergrund.

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Thomas Raab ist Autor, Übersetzer und Herausgeber mit naturwissenschaftlichem Hintergrund. Er ist seit 2013 neben seiner Tätigkeit als freier Autor, Kognitionsforscher und Übersetzer auch Schreiblehrer an der Kunstuniversität Linz. Zuletzt erschienen der Roman Die Netzwerk-Orange und das Standardwerk Selbstbeobachtung: Oswald Wieners Denkpsychologie (hg. mit Thomas Eder) und eine von ihm herausgegebene "Neue Anthologie des schwarzen Humors". www.nachbrenner.at

VERWENDETES BILDMATERIAL

Cover: Foto und Arbeit von Andrea Eiber , Galerie (Absatz 5) : Fotos und Arbeiten von Clara Boesl Effektive Angstbekämpfung, Fotos und Arbeiten von Andreas Tanzer Die Wiedergeburt des falschen Hasen, Fotos und Arbeiten von Rudolf Wittmann, Anze Juvan Angstdüngerpresse , Autor: Foto von Lukas Dostal

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Thomas Raab nähert sich der Angst von einer positiven und einer negativen Perspektive. Die positive Seite der Angst ist das Erkennen einer Schutz- und Motivationskraft von Ängsten, die uns Situationen überleben lassen. Angst als die Kehrseite der Lebensbejahung. Angst als ein Reflex auf eine Gefährdung unserer Lebensumstände. Auf der anderen Seite kann Angst als etwas Negatives gesehen werden. In dem Sinne, dass nur, wer nichts mehr zu verlieren hat, keine Angst zu haben braucht. Lediglich ein Mensch, dem alles gleichgültig ist, der das Leben aufgegeben hat, kann angstfrei leben - ebenso alte Menschen, da sie dem Tode nahe sind und sich damit befasst, auseinandergesetzt und als gegeben akzeptiert haben. Die Quervariante lädt Sie ein, über beide Zugänge zur Angst zu meditieren und diese Perspektiven zu verinnerlichen.
Visuelle Interpretation von Marianne Pührerfellner, Thomas Raab, Katharina Mayrhofer zum Text „Soll und Haben der Angst“ von Thomas Raab
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